• Foto: Richard Becker

Von Helgard Haug

Mit dem Funkspruch „All right. Good night“ soll sich der Pilot der Malaysia Airlines MH370 beim Übergang von einer Flugkontrollzone in die andere verabschiedet haben, bevor jede Spur der Maschine verloren ging. Am 8. März 2014 startete die Boeing mit 227 Passagieren und 12 Crewmitgliedern von Kuala Lumpur zu ihrem Zielort Peking. Nach genau 39 Minuten und 13 Sekunden verschwindet das Flugzeug vom Radar. Was mit der Maschine passiert ist, gilt bis heute als eines der größten Rätsel der Luftfahrt. Wie kann etwas so Großes einfach verloren gehen?

Zur gleichen Zeit schreibt ein Großvater seinem Enkel vier Glückwunschbriefe zum Geburtstag. Der Inhalt ist fast identisch; jeder Umschlag mit Sondermarke frankiert. Ein Jahr später kommt gar keine Karte, der Geburtstag ist vergessen worden. Irgendwann bekommt diese Vergesslichkeit einen Namen und wird zur Diagnose: Demenz. Erst gerät der Name des Enkels in Vergessenheit, dann die Tatsache, dass es einen gibt und schließlich die Gewissheit über die eigene Person.

Dieses herausragende Theaterstück zeichnet das Ringen mit der Ungewissheit nach, berührt und erhellt.

Helgard Haug (* 1969 in Sindelfingen) ist eine deutsche Autorin und Regisseurin. Außerdem ist sie Mitgründerin des Kollektivs Rimini Protokoll und lebt in Berlin.

Es spielen: Linda Schlepps, Hannah Im Hof, Luca Zahn, Rino Hosennen / Auf Video: Carola Schwelien & Bernhard Hurm

Regie: Claudia Rüll Calame-Rosset
Bühne & Kostüme: Claudia Rüll Calame-Rosset
Musik: Thomas Unruh
Kamera: Thomas Wißmann
Regieassistenz: Beate Duvenhorst
Verlag: schaefersphilippen™, Theater und Medien GbR, Köln
Dauer: 110 Minuten, eine Pause
Premiere: 11. Mai 2024

Pressestimmen

  • „Good night. All right“ verknüpft eine Krankengeschichte, ein Einzelschicksal, mit dem Flug der Boeing 777 Malaysia Airlines, die am 8. März 2024 spurlos über dem Indischen Ozean verschwand. Die Parallelen wurden schnell deutlich. Das ist neben dem Ablauf der Geschehnisse vor allem die Parallelität der Gefühle der Angehörigen, die sich mit dem Unausweichlichen auseinandersetzen müssen. Die Autorin schöpft hier aus ihrer Familiengeschichte, weshalb es ihr gelingt, authentisch zu erzählen, wie man es als Betroffener erlebt, wenn sich ein geliebter Mensch unter dem zunehmenden Eindruck der Demenz verändert. Es geht, um es deutlich zu machen, nicht um Entsetzen, das Stück, das zwar sehr wohl vom Entsetzen erzählt, malt keinen Horror. Die Szenen sind packend, spannend, aber ebenso anrührend. Sie bekümmern, machen traurig, erreichen jedoch, dass sich der Zuschauer das „Schwierige Thema“ ins Bewusstsein holt und sich Fragen stellt: Wie gehe ich damit um, wie behandle ich einen Demenzkranken, wie würde ich selbst behandelt werden wollen? Auf der Bühne überzeugend als Personal der Luftüberwachung und als Familie: Linda Schlepps, Hannah Im Hof, Luca Zahn und Rino Hosennen. In Videoeinspielungen agieren Carola Schwelien und Bernhard Hurm. Hurm beeindruckend in seiner Wut, in seiner Verzweiflung und seiner Abgeklärtheit. Der Flug ins Bewusstsein und in menschliche Seelenzustände vergeht, darf versichert werden, sehr schnell. (Matthias Badura)
    Hohenzollerische Zeitung / Schwäbisches Tagblatt, 14. Mai 2024
  • Rüll gelingt eine eindringliche Inszenierung, in der Haugs Worte den Zuschauer mit rhythmischer Leichtigkeit und emotionalem Gewicht treffen. (…) Im Gegensatz zu Haugs Inszenierung, in der der Text 'stumm' projiziert wird, lässt Rüll die Worte nahezu ungekürzt sprechen: von einem vierköpfigen Ensemble, die Kinder des Vaters, die als sachliche Referenten berichten, als Erinnernde erzählen, poetisieren oder singen, im Loop, als Chor unisono oder zeitversetzt. Ein Konzept, das den immanenten Rhythmus des Textes herausarbeitet. Ist die erste Hälfte noch mit weitreichenden Theoriedetails und Beschreibungen gespickt, rast der zweite Teil ins Nichts, reiht Vater-Ebene und MH370-Historie im Staccato hintereinander – im gnadenlosen Sog. Das Timing der Schauspieler:innen ist fast perfekt. Vor allem Hannah Im Hof und Rino Hosennen überzeugen mit Wandungsfähigkeit in Stimme und Spiel zwischen Beobachtendem und Erlebendem. (…) Bernhard Hurm als Vater und Carola Schwelien als dessen Lebensgefährtin tauchen in kurzen Videosequenzen oder als Stimmen vom Band auf. Dass Hurm leicht Dialekt spricht, macht ihn 'echt', er tritt aus dem Stück heraus – erhält dadurch Präsenz in seinem Verschwinden. Ein ähnliches Heraustreten schaffen die direkte Ansprache des Publikums (bei Saallicht) oder das Lesen-Lassen einzelner Sätze des Vaters von Zuschauer:innen. Sounddesign und Musik von Thomas Unruh reichen von Geräuschkulisse – ein "Doppel-Ping" ähnlich dem Anschnallzeichen im Flugzeug oder aber ein Herzrhythmus – bis zum Lied, wobei die Schauspieler:innen sowohl Loop als auch Glockenspiel bedienen. Der Sound unterstützt den Textrhythmus und erzeugt Stimmungen beim Zuschauer: Beklemmung durch scharfe, laute Klangformen oder erleichterndes Lachen, wenn die Erholung des Vaters mit ausgelassenem Tanz gefeiert wird. (…) "All right. Good night." des Theater Lindenhofs berührt. Das liegt an der Kraft von Haugs Sprache und am Vertrauen des Melchinger Teams auf diese Sprache – wodurch das poetische Wort-Skelett in seiner schlichten Prägnanz glänzen kann. (Susanne Greiner; Die Kritik ist online abrufbar auf nachtkritik)
    Nachtkritik, 12.05.2024
  • Ein Flugzeug verschwindet, ein Mensch verschwindet: Zwei Geschichten. Helgard Haug erzählt sie nüchtern, sachlich, genau, parallel. Ein Text entsteht, der erfüllt ist von schmerzhaften Resonanzen und der Empfindungen weckt, die über das Sagbare hinausgehen. Da ist ein erschreckendes Mysterium, das die Schlagzeilen beherrschte, und eines, das sich in einem ganz persönlichen, familiären Kreis zutrug. Claudia Rüll Calame-Rosset als Regisseurin in Melchingen hat einen Weg gewählt, der sich von der Uraufführung deutlich absetzt. Rimini Protokoll inszenierten „All right. Good night.“ in Berlin als Konzeptperformance mit einem projizierten, zu großen Teilen verschwiegenen Text. Im Lindenhof wandelt sich das Stück zum Sprechtheater, deklamatorisch auch. Rino Hosennen, Hannah Im Hof, Linda Schlepps und Luca Zahn teilen den Text untereinander auf, schlüpfen nur für Momente in einzelne Rollen; Eine Distanz, der Verzicht auf ein betont schauspielerisches Auftreten, sagt die Regisseurin, sei ihr ein wichtiges Anliegen gewesen – der Text solle bei den Zuschauern eigene Emotionen wachrufen. Und das tut er. Die Bühne, gestaltet ebenfalls von Claudia Rüll Calame-Rosset, gleicht dem Inneren eines Flugzeugs. Draußen, vor den Fenstern, sind manchmal familiäre Szenen zu sehen, leuchtet manchmal die Sonne auf dem Wolkenmeer. Thomas Unruh schuf eine Musik zum Spiel, die ihm mit einfachen Liedern, Glockenspiel, viel von seiner Bedrohlichkeit nimmt, sie dann aber in kurzen Noise-Attacken doch ausbrechen lässt. (Thomas Morawitzky)
    Reutlinger Generalanzeiger, 13.05.2024
  • Es ist eine kühne Mischung zwischen autofiktionalem Bericht und kühler Kolportage. Helgard Haug protokolliert beide Katastrophen, die kleine private und die große des mysteriösen Todesflugs in bruchlosem Wechsel. Rino Hosennen, Hannah im Hof, Linda Schlepps und Luca Zahn geben die vier Geschwister – Bernhard Hurm und Carola Schwelien werden als Stimmen und Videos eingespielt – ebenso präzise wie wechselweise die nüchternen Berichte einer Nachrichtenagentur oder eines Reporters über den völlig rätselhaften Fall des Fluges MH370 (…). Die Schauspieler spielen nicht, sie reden nur, erzählen, berichten in meist trocken-nüchterner Sprache, mal mit, mal ohne Mikrofon. Diese Prosa zu vertonen, gibt sich Thomas Unruh alle Mühe, aber ein rockiger Song etwa im Pflegeheim muss ohne jeden sprachlichen Rhythmus befremdlich wirken. Claudia Rüll Calame-Rosset bietet, regie-handwerklich sehr sauber, ein paar Bilder, ein paar Einfälle wie die Publikumsbefragung auf, um Theater aus diesem Text zu machen. Wir haben seinerzeit gescherzt, ein Frank Castorf (oder ein Zadek, ein Peter Stein) könnte auch das Berliner Telefonbuch inszenieren, es wäre immer noch aufregend. Doch dieser Text hätte wahrscheinlich auch solche großen Regisseure vor unlösbare Aufgaben gestellt. Es gibt eigentlich keine einzige echte Szene, keinerlei Interaktion zwischen den Figuren, übrigens auch keine biografisch-charakterhaften Zeichnungen (vielleicht mit Ausnahme des Vaters, der auf Demos mal Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh skandierte, in einer Frankfurter Männer-WG wohnte und als Auslandspfarrer in den USA Martin Luther King erlebte). (…) Der Irrflug der bis heute verschollenen malaysischen Maschine MH370 ist in der Substanz eine gruselig packende, so rätselhafte wie spannende Story, ein Horror. Dazu haben viele dieses allmähliche Versinken dementer alter Menschen im Nichts, wenn nicht an eigenen Eltern erlebt, so doch als denkbares eigenes Schicksal vor Augen. Helgard Haugs provozierend nüchterner Text beschreibt das in allen Phasen und Details – so sehr die Symptome, Begebenheiten und Verhaltensweisen individuell variieren mögen – ganz sachlich. (Martin Bernklau; Online abrufbar auf cul-tu-re)
    Cul-tu-re